Kapitel 6

Es war bereits früh am Morgen, als wir das Schwimmbad, eingehüllt in weißen, flauschigen Handtüchern verließen und er mich schließlich dann heimbringen wollte. Ich hatte mich in seinem Zimmer, das tatsächlich im Obergeschoss lag und gar nicht so groß war, umgezogen und er hatte mir erklärt, dass ihm dieses Zimmer half Bodenständig zu bleiben und es ihm schließlich auch reichte. Wir gingen dann mit frischen Klamotten nach unten und hörten wie Musik aus der großen Küche dröhnte. Man konnte meinen, dass sie Angestellte zum Kochen hatten, aber dem war nicht so. Nur einige Putzfrauen und Herren und einen Gärtner, sonst hatten sie nichts. Laut, hoch und...Klassik. Ich sah Casper fragend an und er strahlte wie ein kleines Kind: „Dad?" Er riss irgendeine Tür auf und lief in den Raum mit der großen Kücheninsel und den modernsten Koch-Utensilien. Ein Mann stand in den flauschigsten Badeschlappen, die ich jemals gesehen hatte und in einem Morgenmantel da und briet sich gerade Speck. Er sah aus müden Augen auf und lächelte: „Casper... mein Junge." Casper blieb vor ihm stehen und zog genießerisch den Duft des frischen Essens ein. „Ist Mom denn auch da?" fragte Casper und wurde darauf von seinem Vater in die Arme geschlossen. Ich stand eher unsichtbar einige Schritte hinter ihnen und sah ihnen zu. Nicht im Traum wäre ich so mit meinem Vater umgegangen. So locker und...liebevoll. Der Mann nickte, fuhr über seinen Dreitagebart und antwortete: „Ja sie schläft aber... war eine anstrengende Geschäftsreise und wir sind auch gerade erst angekommen. Aber warum bist du schon auf?" Gerade erst angekommen und schon im Morgenmantel... Komischer Typ. Mein Blick fiel auf die Uhr und es war tatsächlich gerade erst halb sechs morgens. Sein Blick fiel auf mich und er musterte mich. Ich hatte die Sachen von der Party an. Eine lange Hose und ein niedliches Top mit Ausschnitt, darüber die Jacke. Doch alles war recht zerknüllt und ich sehnte mich nach einer heißen Dusche, nach dem Chlorwasser im Schwimmbad. „Wen haben wir denn da?" Ich setzte mein süßestes Lächeln auf und legte den Kopf leicht schief: „Mein Name ist June, freut mich sie kennen zu lernen Herr..." Er hatte mich erst skeptisch gemustert, lächelte jedoch dann: „Nenn mich doch Jonathan." Ich grinste noch breiter und sah zu Casper. Ich hatte die Hände zusammengelegt und die Finger verschränkt um etwas schüchtern zu wirken. Ich klimperte mit den Wimpern und Casper reagierte schließlich: „June ist meine Freundin, sie ist gerade erst hergezogen." Er ging zu mir und nahm meine Hand und umschloss sie mit seinen. Er lächelte mich dem unschuldigsten Lächeln an, das ich jemals gesehen hatte und dann räusperte er sich erneut: „Sie muss jetzt leider nach Hause... Aber ich denke ihr werdet noch genügend Gelegenheiten bekommen um euch zu unterhalten." Er zwinkerte seinem Vater zu und zog mich dann raus auf den Flur. Dann stiegen wir nüchtern ins Auto und er brachte mich heim.

 

„Soll ich dich reinbringen?" fragte er mich, während er mir die Tür öffnete und ich ausstieg. Ich überlegte kurz und schüttelte den Kopf. Ich wollte eigentlich die warme Dusche genießen und danach gleich Schlafen gehen, da ich echt wahnsinnig erschöpft war. „Nein danke." Murmelte ich und lächelte ihn an. Er erwiderte mein Lächeln zaghaft und beugte sich dann vor und gab mir einen leichten, kaum spürbaren Kuss. „Du bist ein viel zu guter Schauspieler." Sagte ich dann ernst und atmete müde aus. Er sah etwas nachdenklich zu Boden und nickte dann: „Ich weiß." Schließlich verabschiedeten wir uns und ich konnte endlich das Haus betreten. Ich wollte gerade zur Treppe gehen als mich ein Räuspern zusammenzucken ließ. Erschrocken wandte ich mich um und bemerkte meinen Vater. „Du hast nicht gesagt, dass du so spät nach Hause kommen würdest." Er musterte mich mit einem schrecklich wütenden Blick. „Ich dachte du arbeitest." Sagte ich ernst und ließ meine Tasche neben mir auf den Boden fallen. Er verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf: „Es macht keinen Unterschied ob ich arbeite oder nicht, ich will nicht von dir angelogen werden!" Ich rollte mit den Augen und zuckte mit den Schultern. Dann strich ich mir noch eine Strähne aus der Stirn: „Mach jetzt bitte nicht einen auf Vater..." Er hob zornig eine Augenbraue und musterte mich: „Bitte? Ich bin dein Vater! Es ist mein Recht!" Ich erwiderte seine zornigen, kalten Blicke, stemmte die Arme in die Seite und sagte energisch: „Ich habe keinen Vater." Dann packte ich meine Tasche und stampfte die Treppe hoch. Mein Vater jedoch, ließ sich das nicht gefallen und schrie mir hinterher: „Hausarrest bist du Manieren gelernt hast!" Ich blieb auf der Mitte der Treppe stehen und sah zu ihm hinab: „Da kannst du lange warten." Er musterte mich stur und sagte erst nichts, doch dann antwortete er bedrohlich ruhig: „Ich kann warten, die Frage ist, wie lange du warten kannst?" Ich funkelte ihn an und schnaufte wütend. Das konnte doch nicht sein Ernst sein!? Erst zwang er mich in diese scheiß Stadt zu ziehen und jetzt machte er mir auch noch einen Strich durch die Rechnung meinen Ruf aufzubauen. Wie sollte das den funktionieren, wenn ich heute Nacht nicht auf der nächsten Party auftauchen würde? „Ich hasse dich." Fauchte ich ihn an und rannte dann die Treppe hoch. Ich schlug die Tür zu meiner Etage so hart zu wie möglich und atmete auf. Diese Schaueinlage musste ihm wohl gereicht haben. Ich würde an diesem Abend natürlich trotzdem wieder gehen, koste es was es solle.

 

An dem Tag passierte nicht mehr viel, außer, dass ich duschen und schlafen ging und mich mein Vater zum Essen rief, zu dem ich aber nicht erschien. Ich hatte oben in meinem Zimmer noch eine Packung „Gizzly-Tarts" was so kleine Kuchen waren und von diesen wurde ich gut satt. Mein Vater machte sich gegen Abend echt Sorgen um mich und kam dann zu mir hoch in meine Etage, wo ich gerade in meinem Bett lag, im Pyjama, und Fern sah. Er hatte ein Tablett mit Essen dabei und stellte es auf meinem Schreibtisch ab, dann sagte er streng, aber ruhig: „Tut mir leid, dass ich so hart war, aber dein Benehmen kann ich hier nicht erdulden." Ich antwortete nicht und starrte gerade auf den Fernseher. Ich bemühte mich keine Reaktion abzugeben. Er seufzte, dann ging er wieder zur Tür und wandte sich ein letztes Mal um: „Schlaf Gut meine Süße." Süße? So hatte er mich noch nie genannt. Er bemühte sich doch tatsächlich unser kaputtes Verhältnis wieder aufzubauen. Ich wartete bis er die Tür geschlossen hatte und wusste, dass er noch dahinter stand und horchte, weshalb ich seufzend aufstand und den Teller mit den Ravioli nahm und begann etwas zu Essen. Ich aß nicht wirklich viel, aber genug um das Klirren von dem Besteck deutlich hören zu lassen. Anschließend wartete ich einige Sekunden. Ich würde nachsehen müssen ob er weg war. Als Ausrede könnte ich benutzen, dass ich ins Bad müsste. Doch ich brauchte diese Ausrede nicht, denn er war bereits verschwunden. Ich wartete eine weitere Stunde und ging sogar auf den Balkon um zu schauen, wann die Lichter ausgingen. Um halb zwölf brannte nur noch unten in der Küche Licht. Ich zog mir meinen Pyjama aus und trug darunter ein schickes Cocktailkleid. Zum Schluss musste ich mich nur noch frisieren und in meine Schuhe schlüpfen. Dieses Mal normale Turnschuhe, da ich leise sein musste. Ich ging zur Tür die zur Treppe führten und drückte die Türklinke runter. „Dieser Mistkerl, das hat er nicht ernsthaft getan!" entfuhr es mir in einem Flüstern als ich bemerkte, dass mich mein eigener Vater in meiner Etage eingesperrt hatte. Ich stöhnte und ich konnte den wütenden Tritt gegen die Tür nicht unterdrücken. Ich zückte mein Handy und schrieb eine WhatsApp an Felix. Und oh bitte, bevor sich da irgendjemand über nicht vorhandenen Cliches aufregt, wer schreibt heutzutage noch SMS? Felix antwortete schnell, denn wie sich herausstellte, wartete er schon seit einer halben Stunde darauf mich abholen zu können. Ich wollte nicht von Casper abgeholt werden um den Anschein zu erwecken, dass wir es geheim halten wollten.

 

Eingesperrt? Der hat doch einen Knall... Ich bring ne Leiter mit!

 

ACEEE! Ich heiße ACEEE

 

Ich schmunzelte, doch diese Leiter würde wenig bringen, da ich im 4. Stock wohnte. Ich musste irgendwie anders hier raus kommen. Da fiel mir der Swimmingpool in unserem Garten ein... Es war Lebensmüde aus dem 4. Stock zu springen, aber vom zweiten würde es funktionieren. Ich ging also in mein Zimmer, da es das einzige Zimmer mit einem Fenster über dem Swimmingpool war und öffnete es. Ich würde einen Meter weit von der Wand wegspringen müssen um wirklich im Wasser zu landen... Wollte ich das wirklich riskieren? Ich musste. Ich zog also meine Klamotten wieder aus und legte alles in eine große Sporttasche. Sowie ein Handtuch und Unterwäsche zum Wechseln. Ich würde einfach in Shorts und einem Top den Sprung wagen. Doch erst müsste ich es bis zum zweiten Stock schaffen. Ich schmiss die Tasche geradewegs auf den Rasen direkt vor dem Swimmingpool und versuchte meinen Atem zu beruhigen. Ich ließ den Fernseher laufen und schloss meine Zimmertür ab. Dann nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und schwang mein Bein über das Fensterbrett. Es gab unter jedem Fenster ein Fensterbrett. Und über jedem Fenster einen kleinen Absatz. Dann waren jedes Fenster nur etwas über eineinhalb Meter vom nächsten darunter entfernt. Eine Leichtigkeit. Allerdings waren es insgesamt gar nicht so wenige Meter, die ich zu bewältigen hatte. Endlich kam Felix an und ich hatte ihm geschrieben, dass er einmal ums Haus gehen sollte. Als er sah was ich vorhatte, starrte er mich ungläubig an: „Das wirst du nicht tun." Ich antwortete nicht.

 

Ich hatte nun beide Beine auf dem Fensterbank stehen und ging langsam in die Hocke um mich mit den Händen festzuhalten. Anschließend schloss ich die Augen und schob langsam meinen Fuß über den Abgrund hinaus und versuchte ihn so weit wie möglich nach unten zu strecken, doch allein mit der Länge meines Fußes hatte ich keine Chance den Absatz zu erreichen. Ich musste mich hängen lassen. Ich hielt erst einige Sekunden inne, ehe ich mit dem anderen Fuß der Kante des Fensterbrettes auch nur in die Nähe kam. Mein Herz klopfte schneller und ich wusste, dass es vorbei mit mir war, wenn ich fallen würde. Ich konnte das nicht tun... aber ich musste. Die Augen fest zusammengekniffen wagte ich dann den Zentimeter und mein Fuß rutschte ab und glitt in die Tiefe. Meine Arme waren überwältigt mit dem plötzlichen Kraftaufwand und ich spürte wie sie schon innerhalb wenigen Sekunden stark nachließen. „Du bist verrückt!" fauchte Felix und reckte seinen Hals in die Höhe um mich im Auge zu behalten. Er hatte die Tasche mit den Kleidern weggezogen und suchte verzweifelt nach irgendetwas weichem was wenigstens die größte Sauerei verhindern würde. „Geh zurück", rief er laut, nicht mal eine Sekunde darauf bedacht, dass mein Vater ihn hören könnte. Er hatte Recht, ich musste zurück, das war absolut lebensmüde. Ich versuchte meine Arme noch stärker anzuspannen, doch ich wusste schon allein bei dem bloßen Versuch, dass ich zu schwach war um mich zurück in mein Zimmer zu ziehen. Ich würde sterben. Erschrocken wirbelten meine Beine hin und her durch die Luft und ich spürte wie der Druck auf meinen Armen langsam zu stark wurde. Ich versuchte mich mit aller Kraft zu halten, aber es war schwer, verdammt schwer. Konzentrier dich June! Ich zwang mich aufzuhören zu wackeln und tastete mit meinen Füßen die Wand ab. Ich musste sie leicht anwinkeln um den Absatz zu erwischen. Das Blöde und unbedachte an diesem Mist war nur, dass ich keine Ahnung hatte, wie ich mit den Händen nun nach unten kommen sollte ohne nach unten zu stürzen wie so ein Stein. Ich hing da erst einmal zwei Minuten und merkte wie ich das Gefühl in den Armen ganz verlor. Ich spürte außerdem wie mir heiße Tränen die Wangen hinab perlten und dann weit unter mir zu Boden tropften. Felix schrie die ganze Zeit irgendetwas und ich hörte seine Angst und Verzweiflung. War es das wirklich wert? Der Beliebtheit wegen würde ich nun sterben. Ich schluckte und ich wollte nicht aufgeben, aber meine Arme konnten nicht mehr. „Hörst du mich?" Casper? Was machte denn Casper hier? Ich wagte einen Blick nach unten und tatsächlich es war Casper. Sein Haar war nass und er trug nur irgendein T-Shirt und eine Shorts. Er war wohl gerade unter der Dusche gewesen, als Felix ihn angerufen hatte. Ich zitterte und ich atmete schwer. Mein Makeup war verlaufen und bei Gott ich wollte nicht so hässlich sterben. Ich wollte überhaupt nicht sterben. June hatte Angst, die unglaubliche, furchtlose June hatte tatsächlich Angst. „Felix, klingel ihren Vater wach, er soll sofort in ihr Zimmer gehen und sie wieder reinziehen!" Felix unterdrückte eine Bemerkung drüber dass er nicht Felix hieß und rannte los, doch es hatte alles keinen Sinn. „Casper, ich kann mich nicht mehr halten." Ich weinte und ich schrie und Casper atmete angestrengt aus und dachte nach. „Du musst es versuchen June!" Doch ich konnte nicht mehr. Warum hatte Felix nicht gleich meinen Vater geholt und erst ihn angerufen, so eine Zeitverschwendung. Ich würde sterben. „Ich kann nicht." Schrie ich. Ich hörte wie etwas gegen meine Tür hämmerte. Die abgeschlossene Tür. Ich schluckte und weinte noch mehr: „Ich kann nicht mehr Casper." Er schien augenblicklich zu verstehen was da vor sich ging und zuckte erschrocken zusammen: „June. Stoße dich ab. So stark wie du kannst. Du musst so weit wie möglich nach hinten fallen. Du musst in den Pool fallen." Ich starrte nach unten. Das hätte ich nicht tun sollen, denn mir wurde klar, dass es höher als die 5 Meter im Schwimmbad war. „Ich kann nicht. 1 Meter ist zu weit weg! Ich kann das nicht Casper!" Ich zitterte und meine Finger lösten sich langsam. „Du hast keine Wahl June!" schrie Casper verzweifelt und ich hörte wie er seine Hand an das Fensterbrett über ihn anlegte. Er versuchte hoch zu klettern. Er war um einiges Stärker als ich und schaffte es tatsächlich bis zum zweiten Stock. „Du springst wenn ich es dir sage! Ok?" Ich nickte und hörte wie das Boxen an meiner Tür immer lauter wurde.

 

„Jetzt" schrie er und ich stieß mich ab. Vielleicht einen halben Meter weit. Ich würde sterben. Ich hatte die Augen geöffnet und sah wie in diesem Moment begleitet von einem Knall mein Vater an das Fensterbank stürzte und seine Hand nach mir ausstreckte, doch er war zu spät. Ich fiel und ich fiel, wie in Zeitlupe. Ich erwartete den dumpfen Schmerz und die Schwärze. Doch stattdessen schmerzte nur meine Seite, als etwas mit voller Wucht gegen mich flog und mich ins Wasser schleuderte. Die Kälte des Wassers drückte mir jegliche Luft aus den Lungen, aber sie war nicht so tödlich wie der Aufschlag. Dennoch spürte ich das Brennen der Luftlosigkeit in meiner Lunge, die langsam von dem Wasser ausgefüllt wurde. Dann wurde alles immer dunkler und ich nahm alles nur noch stumpf war, bevor das letzte Licht, welches das dunkle Wasser durchbrach, ebenfalls erlosch und meine Erinnerungen löschte.